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Lesedidaktische Grundlagen

Warum das Leseband sinnvoll ist

 

Zu den Grundlagen

Besorgniserregende Ergebnisse der letzten IGLU-Studie (2023)

Seit mehr als zwanzig Jahren ist es um das Lesen deutscher Schülerinnen und Schüler nicht gut bestellt. Die letzte IGLU-Studie von 2023 hat dies noch einmal eindrücklich bestätigt: Die durchschnittliche Lesekompetenz aller, sowie die der schwächsten Schülerinnen und Schüler, hat gegenüber den Studien von 2001 und 2017 noch einmal signifikant abgenommen, wohingegen der Abstand zwischen den am schwächsten und stärksten lesenden Kindern erneut zugenommen hat.

25 Prozent der deutschen Viertklässlerinnen und Viertklässler können mittlerweile geschriebene narrative Texte im Grunde nicht verstehend lesen, wobei ein weiterer Anteil von 35 Prozent nur unterdurchschnittliche bis durchschnittliche Leseleistungen zeigt. Mehr als die Hälfte der deutschen Viertklässlerinnen und Viertklässler benötigt also dringender denn je eine kohärente und kontinuierliche, systematische Leseförderung, da viele von ihnen sonst im Übergang zur weiterführenden Schule oder in deren weiteren Verlauf auch in den Sachfächern zu scheitern drohen, in denen Lernen durch und mit Schriftlichkeit eine zentrale Rolle spielt.

An deutschen Schulen wird zu wenig (mit geeigneten Methoden) gelesen

Als ein Grund für die seit über 20 Jahren andauernde negative Entwicklung wurde unter anderem eine im internationalen Vergleich zu geringe Netto-Lesezeit ausgemacht, die deutschen Grundschülerinnen und Grundschülern unterrichtlich zur Verfügung gestellt wird, um sich eine stabile Leseflüssigkeit und Lesekompetenz aneignen zu können. Mit durchschnittlich 28 Minuten pro Schultag (bzw. 140 Minuten in der Woche) fällt sie im internationalen Vergleich außerordentlich gering aus. So lesen deutsche Grundschulkinder in etwa 100 Minuten weniger in der Woche als ihre Altersgenossen in England: Das sind jährlich 4000 Leseminuten, die die Jungen und Mädchen in armen Industriestädten wie Liverpool oder Burnley mehr lesen als Gleichaltrige auf Schalke in Gelsenkirchen, südlich der Elbe in Hamburg-Wilhelmsburg oder in Bremerhaven.

Strukturelle Bildungsbenachteiligung

Privilegierten, stark lesenden Kindern aus bildungs- oder schriftnahen Milieus macht das wenig aus, schließlich erfahren sie zu Hause jene Förderung, Vorlesesituationen etc., die es braucht, um stabile Lesegewohnheiten auch jenseits von Schule und Deutschunterricht ausbilden zu können. Für sprachlich und sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler aber, bei denen zu Hause nicht gelesen wird, in deren Familien keine Bücher angeschafft werden können oder in denen man eine andere Familiensprache spricht, ist eine zu geringe Netto-Lesezeit hingegen eine lesedidaktische Katastrophe, die sich unmittelbar negativ auswirkt. (Zumal die rein quantitative Dauer von 28 Minuten noch gar nichts über das qualitative Gelingen oder Misslingen dieser durchschnittlichen Lesezeit aussagt.)

Die landläufig für wirksam erachteten Leseförderverfahren wie das Reihum-Lesen, stille Lesezeiten, Leseanreize (wie etwa Bücherkisten), Lesetagebücher oder verschiedene Lesestrategiesets scheinen bei schwach lesenden Schülerinnen und Schülern nicht die gewünschte Wirkung zu erzielen. (Das kann letztlich auch daran liegen, dass eine im Schulalltag viel zu häufig unterlassene Lesediagnose zu Beginn oder im Laufe des Schuljahres zu einer strukturellen Überforderung eben dieser Schülerinnen und Schüler führt.)

Leseförderung muss systematisch betrieben werden

Damit es zu einer solchen Überforderung der schwachen, aber ebenso wenig zu einer Unterforderung der starken Schülerinnen und Schüler kommt, braucht es eine systematische Leseförderung. Eine einschlägige wie anschlussfähige Orientierung bietet hierbei seit über zehn Jahren das von Cornelia Rosebrock und Daniel Nix erstmals 2008 ausformulierte didaktische Modell von Lesekompetenz, das das Lesen auf drei unterschiedlichen Ebenen expliziert:

Das Mehrebenenmodell: Lesekompetenz ist mehr als Lesen zu können.

Die konzentrischen Kreise der gegebenen Grafik, in denen die Prozess-, Subjekt- und die soziale Ebene einander umlagern, sollen also verdeutlichen, dass alle Bereiche von Lesekompetenz im konkreten Lektüreakt wie bei dessen Förderung ineinander verschränkt sind – sie sind interdependent. So können gute Verständnisleistungen auf der Prozessebene zum Beispiel bei einem Schüler dazu führen, dass er ein positives Selbstbild als Leser entwickelt und sich auf der sozialen Ebene stärker in den Unterricht einbringt. Nicht-flüssiges Lesen auf der Wort- und Satzebene führt – um ein gegenläufiges Beispiel zu nennen – meist dazu, dass eine betroffene Schülerin demotiviert wird, längere Texte meidet und sich über die Zeit hinweg das nachhaltige Selbstbild einer ‚Nicht-Leserin‘ entwirft.

Die Verzahnung der Ebenen: Lesekompetenz als Zusammenspiel

Die konzentrischen Kreise der gegebenen Graphik, in denen die Prozess-, Subjekt- und die soziale Ebene einander umlagern, sollen also verdeutlichen, dass alle Bereiche von Lesekompetenz im konkreten Lektüreakt wie bei dessen Förderung ineinander verschränkt sind – sie sind interdependent.

Beispiel 1: Prozessebene und ihre Wirkung

Beispielsweise können gute Verständnisleistungen auf der Prozessebene bei einem Schüler dazu führen, dass er oder sie ein positives Selbstbild als Leser entwickelt und sich auf der sozialen Ebene stärker in den Unterricht einbringt.

Beispiel 2: Schwächen auf der Prozessebene

Nicht-flüssiges Lesen auf der Wort- und Satzebene führt – um ein anderes Beispiel zu nennen – meist dazu, dass die betroffenen Schülerinnen und Schüler demotiviert sind, längere Texte meiden und sich über die Zeit hinweg das nachhaltige Selbstbild eines ‚Nicht-Lesers‘ entwerfen.

Leseförderung muss differenzieren

Gleichzeitig macht das skizzierte Lesekompetenzmodell aber auch deutlich, dass es auf den verschiedenen Ebenen didaktische Schwerpunktbereiche gibt, die durch eine gezielte Leseförderpraxis angesprochen werden können. Schülerinnen und Schüler, die zwar flüssig lesen können, aber Schwierigkeiten haben, das Gelesene zu verstehen, benötigen andere Fördermethoden als Lernende, die an der Entzifferung der Schrift auf der Wort- und Satzebene scheitern; und Schüler, die zwar in kognitiver Hinsicht gut und sinnentnehmend lesen können, aber dazu nicht motiviert sind, dies auch zu tun, werden beispielsweise besonders von Fördermethoden profitieren, die sie zum Lesen anregen und auf den Ausbau von Lesemotivation ausgerichtet sind.

Fazit: Leseförderung braucht passgenaue Ansätze

Nicht alle Leseförderverfahren sind also für alle Leseschwierigkeiten geeignet und spezielle Schwächen und Stärken im Bereich von Lesekompetenz erfordern auch spezielle Förderansätze – was schließlich der Grundgedanke einer jeden systematisch zu nennenden Leseförderung ist.

Mangelnde Leseflüssigkeit als Herausforderung

Da das Leseband vornehmlich Methoden vereint, die das Lesen sprachlich und sozial benachteiligter Kinder fördern, steht auch hier, neben der zu stärkenden Lesemotivation, zunächst die Leseflüssigkeit im Fokus. Sie ist eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für den weiterführenden Erwerb von Lesekompetenz und besteht aus folgenden vier Dimensionen.